Professionalität als Ziel des Studiums

 

Studium und Professionalität

Ein Studium ist keine Berufsausbildung. Dennoch betreiben die meisten Menschen am Institut für Waldorfpädagogik, Inklusion und Interkulturalität ihr Studium, um später einen Beruf auszuüben, d.h. sie möchten Lehrer/in, Erzieher/in[1] oder Heilpädagoge/in werden.  Man kann sich fragen, warum sie ihren Beruf nicht erlernen, indem sie mit einem erfahren Lehrer, Erzieher oder Heilpädagogen mehrere Jahre zusammenarbeiten, zuerst zuschauen, danach selbst unter derer Anleitung schrittweise in die eigene berufliche Tätigkeit hineingeführt werden und im Anschluss ihre Leistungen und Schwächen reflektieren. Wahrscheinlich wäre nach solch einer Berufseinführung über mehrere Jahre der Berufseinstieg leichter als nach einem Studium, denn nach diesem wartet der bekannte „Praxisschock“, der die Ideale des Berufsanfängers abkühlt. Natürlich hat es im anwendungsorientierten Studium immer auch Praxisanteile, dennoch kann man sich die Frage stellen, wieso braucht es das Studium, welches sich mit abstrakten Theorien und grundlegenden philosophischen Fragen beschäftigt? Warum wird nicht über einen aktiven Nachahmungsprozess mit anschließender Reflexion gelernt, wie dies in anderen Berufen der Fall ist? Offensichtlich geht der Beruf des (Heil-)Pädagogen über das rein handwerkliche Können hinaus, d.h. Lehrer und Erzieher gehören einem Beruf an, der sich als Profession versteht[2]. Was versteht man unter Professionalität?

 

Professionalität

„Professionalität ist gewissermaßen der ideologisch überhöhte Beruf, die Philosophie, die in der Arbeit steckt … Professionalität ist auch immer ein Begriff, der suggeriert, das jeweilige Handeln sei effektiv (ich tue das Richtige!) als auch effizient (ich tue es richtig)“ (Nuissl 1997, 13[3]). Diese Aussagen betonen das gekonnte berufliche Handeln, während Tietgens das Wissen hervorhebt, welches für das berufliches Handeln nötig ist, welches sich durch Professionalität auszeichnet: „auf eine Kurzformel gebracht, die Fähigkeit nutzen zu können, breit gelagerte, wissenschaftlich vertiefte und damit vielfältig abstrahierte Kenntnisse in konkreten Situationen angemessen anwenden zu können. Oder umgekehrt betrachtet: in eben diesen Situationen zu erkennen, welche Bestandteile aus dem Wissensfundus relevant sein können. Es geht also darum, im einzelnen Fall das allgemeine Problem zu entdecken. Es wollen immer wieder Relationen hergestellt sein zwischen gelernten Generalisierungen und eintretenden Situationen, zwischen einem umfangreichen Interpretationsrepertoire und dem unmittelbar Erfahrenen“ (Tietgens 1988, 37[4]). Professionalität ist somit eine Kompetenz die Wissen und Können verbindet: „Wissen und Können bilden die beiden Quellen von Professionalität, allerdings beschränken sie sich weder auf das Fachwissen einer akademischen Disziplin noch auf die bloße Intuition oder die reine Erfahrung des virtuosen Praktikers. Professionalität stellt vielmehr eine nur schwer bestimmbare Kombination, eine Schnittmenge aus beidem dar.“ (Nittel, 2000, 71[5]).

Professionalität als Kompetenz

Rudolf Steiner beschreibt in der Allgemeinen Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik,  Vorstellen/Wissen und Handeln/Willenstätigkeit als gegensätzliche Tätigkeiten unseres Ichs[6]. Wie muss die Kompetenzbildung unter dieser Voraussetzung erfolgen, die Theorie/Wissen und Können/Handeln im professionellen Handeln verbinden soll? Der Erzieher oder der Heilpädagoge braucht eine Intuition, einen Einfall, um das individuelle Kind situativ richtig zu unterstützen. Im strengen Sinne kann er die theoretisch erarbeiteten Wissensbestände nicht einfach auf die Praxis anwenden, wie dies bei der unorganischen Natur, z.B. in der Mechanik der Fall ist. Steiner beschreibt diesen pädagogischen Einfall, mit dem das individuelle Kind in seiner spezifischen Situation unterstützt werden kann, als eine Steigerung der Phantasie und die Phantasie als Steigerung der Willenstätigkeit. Der Wille entschlüpft unserem wachen Bewusstsein: In einer konkreten pädagogischen Situation muss der Pädagoge handeln, nicht nachdenken. Dieses Handeln soll sich dennoch von dem eines Laien unterscheiden, es muss sich als professionelles Handeln auszeichnen.

Damit der Erzieher/die Erzieherin, die gefragte Intuitionen im richtigen Augenblick hat, muss er/sie sich folglich vorbereiten. Dafür ist das Studium da. Dem zukünftigen Erzieher/der zukünftigen Erzieherin bietet sich die Möglichkeit, sich im Studium Wissen anzueignen, welches er/sie aber nicht direkt auf die Praxis übertragen kann aufgrund der Unterschiedlichkeit der Kinder. Wissen alleine genügt folglich nicht. Die Schulung des Handelns, wie das in einem handwerklichen Beruf gemacht wird, reicht ebenfalls nicht aus, weil dies die Standardisierbarkeit der Handlungssituationen voraussetzten würde. Da Denken und Handeln nur lose gekoppelt sind, ist es möglich, dass der zukünftige Erzieher sich auf das individuelle Kind einstellen kann. Was sich zuerst als Problematik zeigt, ist die Voraussetzung dafür, dem Kind eine individuelle Entwicklung zu ermöglichen. Diese Freiheit, die dem Kinde erhalten bleiben muss, spiegelt sich in den Handlungsoptionen des Erziehers. Der Erzieher ist eben nicht nur ein „Vollstrecker“. Er ist kein „höherer Automat“. „Wer nur handelt, weil er bestimmte sittliche Normen anerkennt, dessen Handlung ist das Ergebnis der in seinem Moralkodex stehenden Prinzipien. Er ist bloß Vollstrecker. Er ist ein höherer Automat. Werfet einen Anlass zum Handeln in sein Bewusstsein, und alsbald setzt sich das Räderwerk seiner Moralprinzipien in Bewegung und läuft in gesetzmäßiger Weise ab, um eine christliche, humane, ihm selbstlos geltende, oder eine Handlung des kultur-geschichtlichen Fortschritts  zu vollbringen.“ (Steiner, 1962, 121[7])

Dies bedeutet aber auch, dass der zukünftige Erzieher sich im Studium neben vielfältigem Wissen die Fähigkeit eines eigenständigen Denkens aneignen muss. Wissensbestände allein genügen nicht um  im richtigen Augenblick das Richtige zu tun.[8]

Der Erzieher/die Erzieherin muss erkennen, dass man eine Sache unterschiedlich anschauen kann, d.h. dass man unterschiedlich denken kann. Z.B. denkt die Systemtheorie anderes über die Welt nach. Nach Glaser handelt es sich bei, der Systemtheorie oder beim Radikalen Konstruktivismus nicht um ein Lehrgebäude, sondern um eine „Art zu denken“[9]. Auch die anthroposophische Pädagogik und Heilpädagogik zeichnet sich dadurch aus, dass anders gedacht wird. In den „Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung“[10] stellt Steiner unterschiedliche Denkweisen vor. Er unterscheidet das „Naturerkennen“ von den „Geisteswissenschaften“. Innerhalb des Naturerkennens differenziert er nochmals zwischen dem Denken über die unorganische Natur (Kapitel 15) und dem Denken über die organische Natur (Kapitel 16). Diese unterscheiden sich vom „Psychologischen Erkennen“ (Kapitel 18), welches sich mit dem beschäftigt, was dem Menschen nicht durch die Natur gegeben wurde, sondern mit dem seelischen Erleben, welches er selbst hervorgebracht hat.

Ein wichtiger Teil des Studiums ist es, verstehbar zu machen, dass man verschieden denken muss. Die Studenten richten damit ihre Anschauung nicht nur auf den Begriff, nicht nur auf den Denkinhalt, sondern auch auf die Denktätigkeit. Sie erwerben sich dadurch auch eine Selbständigkeit im Denken, bzw. in der Anschauung des Kindes und der Umgebung, in die das das Kind eingebunden ist.

 

Professionalität und Begegnung

Pädagogik und Heilpädagogik sind komplexe Fachbereiche. Hier werden Wissensbestände aus den unterschiedlichsten Fachgebieten verbunden. Für die pädagogische Sichtweise sind medizinische, gesellschaftspolitische, rechtliche und ethische Fragen von hoher Bedeutung. Welche Antwort vom zukünftigen Erzieher in der jeweiligen Situation dem individuellen Kind und seiner Familie gegeben werden muss, kann er nur in der Begegnung mit dem Kind entscheiden. Sie können nicht theoretisch vorformuliert werden. Dazu muss er sich ein selbständiges Denken aneignen, das weit über gelernte Wissensbestände hinausgeht. Eine maßgebliche Aufgabe des Studiums ist es diese Eigenständigkeit im Denken auszubilden.

In der Begegnung mit dem Kind benötigt der Erzieher allerdings noch eine zweite Kompetenz um situativ richtig zu handeln. Er muss auf der Handlungsebene sich eine Fähigkeit erwerben, die über das rein handwerkliche Üben, der Lehrertätigkeit oder der Erziehertätigkeit hinausgeht. Er muss seine Wahrnehmungsfähigkeit im Handeln erhöhen. Im Handeln muss der Erzieher wach und aufmerksam werden. Nur so kann er die richtige Entscheidung treffen, welche pädagogische Handlung in diesem Augenblick in dieser Gruppe von Kindern die richtige ist.

Zusammenfassend kann man sagen, im Studium steigert der Student sein Denken indem er die Tätigkeitsseite des Denkens übt, d.h. verschieden denken lernt und er vertieft seine Handlungsfähigkeit, indem er in sein Handeln Bewusstsein/Wachheit hineinbringt. Deshalb gehören Praktika, Sozialarbeit und künstlerische Fächer zum Studium dazu. In ihnen soll der Student dazu befähigt werden seine Wahrnehmungsfähigkeit und seine Aufmerksamkeit im Handeln zu erhöhen.

 

Verzeichnis

[1] Für eine bessere Lesbarkeit, verwende ich nicht immer die weibliche und die männliche Form, aber es sind immer männliche und weibliche Personen gemeint.

[2] Vgl. Brüsemeister, Thomas (2005): Lehrkräfte zwischen Profession und Organisation. (Vortrag in einem Seminar an der Universität Hamburg im Jahr 2005). In: Reader Organisation. Prof. Dr. Thomas Brüsemeister, Institut für Soziologie, WS 2011/12.  

Brüsemeister, Thomas & Kussau, Jürgen (2007): Governance, Schule und Politik. Zwischen Antagonismus und Kooperation. Educational Governance. Band 2. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.

[3] Nuissl, E. (1997): Professionalität, Dilettantismus und Qualifikation. In: Meisel, a. a. O., S. 13-20

[4] Tietgens, H. (1988): Professionalität für die Erwachsenenbildung. In: Gieseke u. a., a. a. O., S.

28-75

[5] Nittel, Dieter, 2000: Von der Mission zur Profession? Stand und Perspektiven der Verberuflichung in der Erwachsenenbildung, Bielefeld: Bertelsmann. S. 71

[6] Steiner, Rudolf (2005): Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik. Vierzehn Vorträge gehalten in Stuttgart 1919. Dornach: Rudolf Steiner Verlag. Zweiter Vortrag.

[7] Steiner, Rudolf (1962): Die Philosophie der Freiheit. Stuttgart: Freies Geistesleben.

[8] Diese Bedeutung des Wissens spiegelt sich in soziologischen Analysen, welche unsere moderne Gesellschaft als „Wissensgesellschaft“ bezeichnen: „In diesem Sinne ist Wissen mit Risiko verbunden; es besteht nicht darin, nicht genug zu wissen, vielmehr nicht das Richtige zum richtigen Zeitpunkt zu wissen. Degele 2000 spricht daher vom ‚riskanten Wissen‘. (Jäger, Wieland: Wissen managen. Soziologische Anerkennung zum erweiterten Aufgabenprofil des betrieblichen Managements. In: Jäger, Wieland, 2001: Reader. Gut zu wissen? Von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft. Institut für Soziologie. FernUniversität Hagen. S. 87)

[9] Glaser, Eckehard (1999): Wissen verpflichtet. Eine Einführung in den Radikalen Konstruktivismus. München.

[10] Steiner, Rudolf (Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung

 

Gisela Erdin, 29.10.14

 

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