Die Entwicklung des Kindes im Spiegel verschiedener Entwicklungstheorien
Ein Mensch, von dem nie etwas verlangt wird, was er nicht kann, wird auch nie alles leisten, wozu er fähig ist (John Stuart Mill, zitiert nach Gwiggner, 2004, 1).
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
Entwicklungstheorien versuchen die Entwicklung des Kindes zu erklären. Wie ist es möglich, dass das Kind etwas Neues aus sich hervorbringt? Dieses Phänomen ist für uns selbstverständlich geworden, weil wir es jeden Tag erleben. Es sollte uns aber in höchstes Erstaunen versetzten. Das kleine Kind untersucht die Welt, fragt uns, lernt Neues, verändert sich so, dass wir es – wenn wir es eine Zeit lang nicht gesehen haben – kaum wiedererkennen. Dies ist bei keinem Tier der Fall.
Entwicklungstheorien lenken ihren Blick auf verschiedene Fähigkeiten: Bewegung, Sprache, Kognition, Moral usw., und beschreiben, wie sich diese von einfachen zu komplexeren Formen entwickeln, bzw. welches Vorkönnen z.B. für Mathematik oder Lesefähigkeit nötig ist. Davon unabhängig ist die Theorien-Architektur der Entwicklungstheorien unterschiedlich. Krettenauer (2009, 225) unterscheidet organismische Entwicklungstheorien, mechanistische Entwicklungstheorien und kontextualistische Entwicklungstheorien.
Organismische Entwicklungstheorien betrachten die Entwicklung analog zu organischen Wachstumsprozessen. „Aus traditioneller Sicht ist Entwicklung ein altersgebundener Veränderungsprozess, der in einer festen Abfolge von Stufen erfolgt und auf einen idealen Endzustand zustrebt, welcher gegenüber dem Ausgangszustand höherwertig ist.“ (Krettenauer, 2009, 223). Die Gründe für Entwicklung sind in diesem Entwicklungsmodell Wachstum und Reifung. Die genetische Ausstattung ist deshalb von herausragender Bedeutung. Die Umgebung kann die optimale Entwicklung der erblich veranlagten Ausstattung ermöglichen oder einschränken, aber nicht modifizieren.
Mechanische Entwicklungstheorien analysieren jede Fähigkeit des Menschen einzeln und gehen davon aus, dass die Zusammensetzung der Fähigkeiten ausreichen die Entwicklung eines Kindes zu beschreiben: „Maschinen bestehen aus diskreten Teilen, die in Beziehung zueinander stehen, und auf die alle komplexe Vorgänge reduzierbar sind.“ (Krettenauer, 2008, 225). Alle Schulprogramme oder Ausbildungsprogramme, bei welchen das Curriculum nur daraufhin konzipiert ist, bestimmte Fähigkeiten und relevantes Wissen zu erwerben und diese dann in einem entsprechendem Fächerkanon angeboten werden, gehen somit von einer mechanischen Vorstellung der Entwicklung aus.
Kontextualistische Entwicklungstheorien behaupten, Entwicklung könne nicht von der sozialen Umgebung separiert werden, sondern wir lernen, weil wir mit der Umgebung interagieren.
2. Entwicklung nach Jean Piaget
Nach Piaget ist die kognitive Entwicklung biologisch bedingt. Die Erkenntnis der Realität geschieht aber durch aktive Konstruktion. Es besteht eine Spannung zwischen dem bereits gewonnenen und organisierten Wissen und dem Drang mehr Informationen aufzunehmen. Dieser Prozess wird durch zwei Faktoren charakterisiert:
Piaget unterteilt die Entwicklung des Kindes in vier Haupt-Phasen:
Obwohl Piaget betont, dass der Wissenserwerb nicht durch die einfache Anhäufung von Erfahrung zustande kommt, sondern dass das Individuum seine kognitive Struktur sich selbst aktiv aufbaut, ist seine Theorie als organismische Entwicklungstheorie konzipiert.
„Nicht die Erfahrung als solche führt das Kind zur nächsthöheren kognitiven Entwicklungsstufe, sondern bestimmte Erfahrungen zu ganz bestimmten Zeitpunkten. Diese Überlegungen deuten darauf hin, dass die artenspezifische kognitive Leistungsfähigkeit biologisch angelegt ist und dass die verschiedenen Entwicklungsstufen in ihrer zeitlichen Strukturierung durch bestimmte Erfahrungswerte ausgelöst werden. Mit anderen Worten, die Erfahrung bestimmt nicht, welche kognitive Leistungen ein Organismus zu erreichen imstande ist, sondern sie übernimmt eine Auslösefunktion für das Heranreifen bestimmter kognitiver Strukturen.“ (Fanselow & Felix, 1990, 169).